Vom 16. März 2022
(dpa/tmn). Wer ein behindertes Kind hat, wird früher oder später die Betreuung nicht mehr vollumfänglich alleine übernehmen können und oft auch Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen müssen. Wollen sich die Eltern dann nach dem Tod des erstversterbenden von ihnen durch gegenseitige Erbeinsetzung für ihr Alter absichern, so entstehen Pflichtteilsansprüche der Kinder. Diese werden sodann vom Sozialstaat auf sich übergeleitet, und gegen den überlebenden Elternteil durchgesetzt. Doch auch ein behindertes Kind kann gegenüber seinem überlebenden Elternteil auf diese Ansprüche auch noch nach dem Tod des erstversterbenden Elternteils verzichten, sodass der Sozialstaat sich die ihm gegenüber erbrachten Leistungen nicht zurückholen kann. Ein solches Vorgehen begegnet nicht dem Vorwurf der Sittenwidrigkeit – auch, wenn dann die Allgemeinheit mit diesen Kosten belastet wird.
Der Fall
Ehegatten haben eine Tochter und einen Sohn. Der Sohn ist aufgrund eines cerebralen Geburtsschadens mit verminderter Sauerstoffversorgung seit seiner Geburt in seinen Fähigkeiten stark eingeschränkt. Er besuchte eine Sonderschule, einen Hauptschulabschluss und arbeitet in einer Behindertenwerkstatt. Die Eltern errichteten ein gemeinschaftliches Testament, in dem sie sich gegenseitig zu Alleinerben und ihre Tochter zur Schlusserbin einsetzten. Nach dem Tod des Vaters kann die Mutter ihren Sohn nicht mehr allein zu Hause versorgen, sodass dieser in einen betreute Wohneinrichtung einzieht und Sozialhilfe erhält. Es wird eine Betreuung eingerichtet; der Sohn ist gleichwohl voll geschäftsfähig. Nach dem Tod des Vaters vereinbaren die Mutter und er vor dem Notar einen Verzicht auf Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsansprüche nach dem Vater. Das Sozialamt leitet gleichwohl die Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsansprüche des Sohnes nach seinem Vater auf sich über und verlangt von der Mutter als Alleinerbin des Vaters Auskunft und sodann Pflichtteilszahlung, da sie den Verzichtsvertrag als sittenwidrig und damit unwirksam ansehen.
Pflichtteilsverzicht als Erlassvertrag wirksam
Zu Unrecht, urteilen die Richter. Ansprüche auf den Pflichtteil können nicht geltend gemacht werden. Der insoweit zwischen der Mutter und ihrem Sohn vereinbarte Verzicht war als Erlassvertrag wirksam und hat die Pflichtteilsansprüche nach dem verstorbenen Vater untergehen lassen. Dieser nach dem Erbfall vereinbarte Pflichtteilserlass verstößt ebenso wenig gegen die guten Sitten wie ein zuvor erklärter Pflichtteilsverzicht. Letzteres ist durch den Bundesgerichtshof anerkannt und auf Fälle wie den vorliegenden zu übertragen. Auch wenn im vorliegenden Fall der Verzicht letztlich zulasten der Allgemeinheit wirkt, da der Sozialstaat sich nicht zumindest teilweise die Unterstützungsleistung, die er an den Sohn gezahlt hat, über die Pflichtteilsansprüche zurück holen kann, ist hier das Prinzip des Familienlastenausgleichs zu beachten. Die mit der Versorgung, Erziehung und Betreuung von Kindern verbundenen wirtschaftlichen Lasten fallen im Falle behinderter Kinder besonders groß aus. Die Eltern leisten regelmäßig in den ersten Jahrzehnten des Lebens des behinderten Kindes einen so großen Beitrag, dass es gerechtfertigt ist, die Kosten im weiteren Verlauf des Lebens zu einem gewissen Teil von der Allgemeinheit tragen zu lassen.
Oberlandesgericht (OLG) Hamm Urt. v. 9.11.2021 (10 U 19/21)