Vom 30. September 2022
(dpa/tmn). Nächste Angehörige wie Kinder haben ein Recht auf eine Mindestbeteiligung am Nachlass. Dieses Pflichtteilsrecht bezieht sich nicht nur auf das, was beim Tod noch übrig ist, sondern auch auf Gegenstände, die der Verstorbene in den letzten zehn Jahren vor seinem Tod verschenkt hat. Im Einzelfall können aber auch Gegenstände in diese sog. Pflichtteilsergänzungsansprüche einzubeziehen sein, wenn die Schenkung länger als zehn Jahre zurückliegt, z.B. wenn sich der Erblasser ein Nießbrauchsrecht vorbehalten hat. Auch bei Vorbehalt eines Wohnungsrechts kann im Einzelfall das gleiche gelten.
Der Fall
Geschwister sind Erben zu je 1/3 nach ihrem Vater. Ein Bruder macht gegen seine Schwester einen Pflichtteilsergänzungsanspruch geltend, weil der Vater ihr zu Lebzeiten ein Haus geschenkt habe und der Nachlass dadurch so gut wie ausgehöhlt sei. Die Schwester sieht die Ansprüche als nicht gegeben, da die Übertragung bereits mehr als 10 Jahre her sei. Der Bruder wendet ein, die Zehnjahresfrist gelte nicht, weil sich der Vater ein alleiniges Wohnungsrecht an allen Räumen des Hauses vorbehalten habe.
Zehnjahresfrist gilt nicht bei vollständigem Wohnungsrechtsvorbehalt
Zu Recht, urteilt das Gericht. Einem Pflichtteilsberechtigten steht sein Pflichtteil grundsätzlich auch an zu Lebzeiten des Verstorbenen verschenkten Gegenständen zu. Allerdings sieht das Gesetz eine sog. Abschmelzung vor, wonach die Gegenstände mit jedem Jahr, das bis zum Tod vergangen ist, mit 10% weniger Wert angesetzt werden, bis sie nach zehn Jahren ganz aus der Pflichtteilsergänzung herausrausfallen. Dies gilt aber nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dann nicht, wenn sich der Erblasser einen vollständigen Nießbrauch an dem Grundstück vorbehalten hat. Das Gericht entscheidet nun, dass dem ein Wohnungsrechtsvorbehalt jedenfalls dann gleichsteht, wenn der Erblasser weiterhin die gesamte relevante Wohnfläche des Hauses benutzen kann. Ein Unterschied zwischen einem eingeräumten Wohnungsrecht und einem Nießbrauch, der darüber hinaus zu einer (entgeltlichen) Überlassung der Räume an Dritte berechtigen würde (§ 1030 Abs. 1, § 1059 S. 2 BGB), sei dann so gering, dass die Fälle gleich zu behandeln seien und Pflichtteilsergänzungsansprüche bestünden.
Oberlandesgericht (OLG) München Urt. v. 8.7.2022 (33 U 5525/21)