Vom 22. April 2020
(dpa/tmn). Angehörigen haben kein Recht aufgrund einer Vorsorgevollmacht Einsicht in Behandlungsunterlagen eines Verstorbenen zu nehmen, wenn dies dem ausdrücklich erklärten oder mutmaßlichen Willen des Verstorbenen widerspricht.
Der Fall
Nach dem Tod ihrer Tochter möchte eine Frau die diese betreffenden Behandlungsunterlagen von den behandelnden Ärzten einsehen. Sie beruft sich dabei auf ihre Erbenstellung und ihre über den Tod hinaus reichende Vorsorgevollmacht. Die Ärzte geben nur ausgewählte Teile der Akte heraus und lehnen die Einsicht im Übrigen ab. Hiergegen geht die Mutter vor, weil sie sowohl die Persönlichkeitsrechte ihrer Tochter der Patientin als auch ihre eigenen als Angehörige und Mutter verletzt sieht. Außerdem macht sie geltend, ohne Einsicht in die vollständigen Unterlagen könnten Behandlungsfehler vertuscht werden.
Das gesetzlich eingeräumte Einsichtsrecht steht unter dem Vorbehalt eines entgegenstehenden Patientenwillens
Ohne Erfolg, entscheiden die Richter. Zwar gebe es in § 630g BGB eine neue Regelung, nach der ein solches Einsichtsrecht im Einzelfall bestehen könne und zwar für die Erben in Bezug auf vermögensrechtliche und für die nächsten Angehörigen hinsichtlich immaterieller Interessen. Nach der gesetzlichen Regelung sei dies aber ausgeschlossen, soweit der Einsichtnahme der ausdrückliche oder mutmaßliche Wille des Patienten entgegenstehe. Letzteres sei hier anzunehmen. Denn die verstorbene Tochter habe besonderen Wert daraufgelegt, dass Gesprächsnotizen der Sitzungen, deren Gegenstand die Beziehung der Patientin zu ihrer Familie und namentlich zur Mutter waren, absolut vertraulich behandelt würden. Sie habe stets zu erkennen gegeben, dass diese Inhalte keineswegs der Mutter jemals zur Kenntnis gelangen dürften. Eine solche Erklärung stehe dem Begehren der Mutter, Einsicht in die gesamte Behandlungsakte zu nehmen, um gerade diese Fragen für sich zu klären, entgegen. Wegen anderer Inhalte der Behandlungsakte habe der Arzt die Einsicht nicht verweigert. Ein solcher Patientenwille ist für Ärzte, nahe Angehörige und die Gerichte bindend. Dabei steht dem Arzt bei der Prüfung des Patientenwillens ein Ermessen zu, das nur begrenzt gerichtlich überprüfbar ist. Demnach ist der in Anspruch genommene Arzt gewissermaßen selbst die letzte Instanz. Die damit verbundene Missbrauchsgefahr muss wegen des hohen Stellenwertes, der dem Vertrauensschutz zukommt, grundsätzlich hingenommen werden. Allerdings muss der Arzt darlegen, dass und unter welchem allgemeinen Gesichtspunkt er sich durch die Schweigepflicht an der Offenlegung der Unterlagen gehindert sieht und warum dies auch über den Tod hinaus gilt.
Wille des Patienten nicht durch Vorsorgevollmacht überlagert
Die so anzunehmende Verweigerung der Entbindung von der Verschwiegenheitsverpflichtung ist nicht durch die Erklärungen sowohl in der Vorsorgevollmacht als auch in der Patientenverfügung über die Schweigepflichtentbindung und das Recht auf Einsicht in die Behandlungsunterlagen überlagert. Dies gelte, obwohl die Tochter der Mutter dort das Recht eingeräumt hat, Krankenunterlagen einzusehen, die behandelnden Ärzte gleichzeitig von der Schweigepflicht entbunden hat und die Vollmacht über den Tod hinauswirkt. Denn dieses Recht, auf das in der Vollmacht verwiesen wird, steht nach § 1901a Abs.1 Satz 1 und Abs. 5 BGB unter dem Vorbehalt, dass die Regelungen noch mit der aktuellen Lebens- und Behandlungssituation zu vereinbaren sind. Allein hieraus folgt bereits, dass der nach Erstellung der Vollmacht und der Patientenverfügung erklärte Wille, keine Gesprächsinterhalte betreffend familiäre Beziehungen bekannt zu geben, nicht von der Vollmacht umfasst ist. Dies gilt vor allem angesichts der Tatsache, dass die Dokumente 2009 erstellt wurden und die psychotherapeutische Behandlung erst 2016 begonnen wurde. Zudem sei die Vollmacht dahingehend einschränkend auszulegen, dass sie keine Inhalte betreffen soll, deren Offenbarung eine Behandlung verhindern würden. Wenn die Tochter ihren Arzt, wie aus dem zitierten Schreiben ersichtlich, ausdrücklich darum gebeten hat, Gesprächsinhalte betreffend die familiären Beziehungen nicht zu offenbaren, spricht dies dafür, dass sie die Therapie nicht in der gebotenen Weise wahrgenommen hätte, wenn sie gewusst hätte, dass dem Willen nicht entsprochen wird. Dies hätte aber der Intention der Vollmacht widersprochen, gegenseitig dafür zu sorgen, dass es dem anderen möglichst gut geht.
Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe, Urt. v. 14.8.2019 (7 U 238/18)