Vom 23. Dezember 2021
(dpa/tmn). Wer mit älteren, leicht demenziellen Menschen einen notariellen Vertrag abschließt, fühlt sich auf der sicheren Seite, wenn der Notar in der Urkunde aufnimmt, dass er sich von der Geschäftsfähigkeit der Beteiligten überzeugt habe. Doch diese scheinbare Sicherheit trügt. Auch ein Notar ist kein Universalgelehrter; ob eine Person geschäftsunfähig ist, kann letztlich oft erst postmortal durch einen sachkundigen Gutachter festgestellt werden.
Der Fall
Ein Mann macht gegen seinen Halbbruder, der den gemeinsamen Vater allein beerbt hat, Pflichtteilsansprüche geltend. Dieser verweigert die Zahlung, da der Vater mit seinem enterbten Sohn 1996 einen notariellen Vertrag geschlossen habe, in dem der Mann auf sein gesetzliches Erb- und Pflichtteilsrecht verzichtet habe. Der enterbte Sohn ist der Ansicht, dieser Vertrag sei durch Aufhebungsvertrag vom 2009 gegenstandslos. Sein Bruder hält dem entgegen, der Vater sei zu diesem Zeitpunkt bereits an einer mittelschweren Demenz erkrankt und in der Folge geschäftsunfähig gewesen. Der enterbte Sohn hält den 2009 beurkundeten Vertrag für rechtswirksam. Es gelte die Vermutung der Geschäftsfähigkeit des Erblassers, da der beurkundende Notar sich von dieser überzeugt habe. Hätte er Zweifel gehabt, hätte er eine Beurkundung nicht vornehmen dürfen.
Gutachten schlägt Notaraussage
Zu Unrecht, urteilen die Richter. Ihm stehe infolge des 1996 erfolgten Verzichts kein Pflichtteilsanspruch zu; denn dieser sei 2009 nicht wirksam aufgehoben worden. Zu diesem Zeitpunkt sei der damals bereits 86-jährige Erblasser nicht mehr geschäftsfähig gewesen, mit der Folge, dass der Aufhebungsvertrag nichtig ist. Geschäftsunfähig ist, wer über einen länger andauernden Zeitraum hinweg zu freien Entscheidungen nach Abwägung des Für und Wider auf Grund einer sachlichen Prüfung der in Betracht kommenden Gesichtspunkte nicht in der Lage ist, weil seine Erwägungen und Willensentschlüsse wegen krankhafter Geistesstörung oder Geistesschwäche nicht mehr auf einer der allgemeinen Verkehrsauffassung entsprechenden Würdigung der die Außenwelt prägenden Umstände und der Lebensverhältnisse beruhen, sondern durch krankhaftes Empfinden, krankhafte Vorstellungen und Gedanken oder durch unkontrollierte Triebe und Antriebskräfte oder die Einwirkung Dritter derart übermäßig beherrscht werden, dass von einer freien Willensbildung nicht mehr gesprochen werden kann. Eine solche krankhafte Störung der Geistesfähigkeit kann bei einer fortschreitenden Demenz vorliegen. Eine solche konnte ein Gutachter im Fall für 2009 klar nachweisen. Dies genügte den Richtern. Eine Vernehmung des beurkundenden Notars sahen sie nicht für erforderlich an. Der enterbte Sohn habe schon nicht dargelegt, auf welche Art und Weise sich der Notar vor oder bei der Beurkundung von der Geschäftsfähigkeit des Erblassers überzeugt haben soll. Die vorliegende Vertragsurkunde bestehe nur aus einer Seite. In der wenige Sätze umfassenden Beurkundung finde sich kein Vermerk dazu, dass der Notar sich zuvor von der Geschäftsfähigkeit des Erblassers überzeugt oder diese in irgendeiner Weise festgestellt hat. Im Übrigen bringe ein Notar allenfalls eine gewisse Berufserfahrung bei der Feststellung der Geschäftsfähigkeit mit. Er verfüge aber als Jurist nicht über das notwendige medizinische Fachwissen, um das Ausmaß einer Demenzerkrankung und damit eine noch vorhandene Geschäftsfähigkeit einschätzen zu können. Deshalb sei den Aussagen von Personen, die zur Zeit der Vornahme des in Rede stehenden Rechtsgeschäfts mit der betroffenen Person in sozialem Kontakt standen, mangels fachlicher Qualifikation zur Beurteilung der medizinischen Voraussetzungen zur Frage der Geschäftsfähigkeit grundsätzlich kein besonderer Beweiswert zuzumessen.
Oberlandesgericht (OLG) Hamm, Urt. v. 13.7.2021 (10 U 5/20)